Liebe KollegInnen, liebe Freunde,
vor wenigen Tagen schrieb ich den Artikel „Purzelbäume der Skepsis„. Darin thematisiere ich nicht nur den Umgang mit Forschungen zur Homöopathie, sondern ebenso die Verwechslung von Wissenschaft und Weltanschauung, die Verkehrung des Humanismus durch bestimmte Gruppierungen und stelle die Frage, welche Art von Wissenschaft für Mensch und Erde wirklich brauchen.
Zu den Anlässen des Artikels zählte die Idee eines Marsches … wie ich glaubte … für die „Freiheit der Wissenschaften“. Für Freiheit kann man auf die Straße gehen, klar. Insofern unterstütze ich die Ziele uneingeschränkt. Nicht aber für Ansprüche auf „die“ Wahrheit, wie es viele Marschierer tun. Das widerstrebt jeder Wissenschaftlichkeit.
Warum aber legten die Wissenschafts-Marschierer ihren Marsch ausgerechnet auf den 22. April, den seit 1970 jährlich stattfindenden internationalen „Tag der Erde“ oder „Mother Earth Day“? Welche eine Chance wäre doch gerade ein „Tag der Erde“, mit der unabdingbaren „Freiheit“ der Wissenschaften auch deren „Verantwortung“ für Mensch und Erde zentral auf die Agenda zu setzen! Was ist Freiheit ohne Verantwortung, auch in den Wissenschaften. Nicht geschehen, Gelegenheit verpasst, bedeutet für den „Earth Day“: Thema verfehlt! Dieser bleibt lediglich als Werbe-Plattform. Statt stetem Streben nach Wahrheit bleibt ein Wahrheits-Getrampel, nicht viel besser als die „alternativen Fakten“ von Trump & Co. Es bleibt ein halber Purzelbaum, bei dem der Kopf zwischen den Füßen stecken bleibt. So auch das Logo des Marsches: ein seit 90 Jahren als überholt geltendes Atom-Modell mit einer Erdkugel, die darin doch arg eingeklemmt wirkt.
Ich schaute die Hintergründe näher an. Es sind Hochschul-Einrichtungen mit dabei, gegen hier nichts zu sagen ist. Doch am Beginn der Aktionen standen ausgerechnet genau jene Vertreter eines allzu schlichten Szientismus, einer unkritischen Fortschrittsgläubigkeit ohne ethische und ökologische Reflexion, einer reduktionistische „Aufklärung 2.0“ unter falscher Flagge ausgerechnet des „Humanismus“, die uns schon anderweitig einschlägig begegnet waren. Ein Schelm auch, wer Böses dabei denkt, dass einst die Nuklear-Industrie, heute insofern keusch versteckt, mit ganz ähnlichen nuklearen Logos antrat, wie nun die Marschierer. Mutter Erde schüttelt sich.
Der Marsch wird auch anderweitig kontrovers diskutiert, denn unser Bildungssystem braucht, von den Kindergärten bis zu den Hochschulen, viel dringender Reformen als unkritische Fan-Clubs. Die Freiheit der Wissenschaften ist nicht alleine durch narzisstische Autokraten bedroht, sondern in viel größerem Umfang dadurch, dass 90% der Forschung heute unmittelbar für industrielle Zwecke erfolgt, dass die rund 10% verbleibender Hochschul-Forschung zunehmend durch sog. Drittmittel finanziert sind und die Wirtschaft zudem auch bei der Vergabe staatlicher Zuschüsse fett in den Gremien der Ministerien sitzt (1). Das muss thematisiert werden, statt mit Image-Kampagnen sich selbst zu feiern!
Was aber den „Earth Day“ anbelangt, so identifiziert sich nach meinen bisherigen Erkenntnissen ausschließlich das US-amerikanische Earth Day Network, earthday.org mit dem Marsch. Die ebenfalls international tätige kanadische Earth Day Organisation, earthday.ca sowie das deutsche Earth Day Komitee earthday.de (diesjähriges Motto: „Grüne IT für’s Klima“) wiesen hingegen die Kooperation zurück.
Die kanadischen Earth Day Aktivisten kritisieren: „In den USA wird der Begriff ‚Earth Day‘ als frei verwendbar betrachtet. Somit kann jeder und können auch profitorientierte Unternehmen diese Worte verwenden, um für den Verkauf ihrer Produkte oder Dienstleistungen zu werben oder ihr öffentliches Erscheinungsbild aufzupolieren, selbst wenn ihre Produkte oder Dienstleistungen überhaupt nicht umweltfreundlich sind. Dadurch hat der Begriff ‚Earth Day‘ in den USA seinen Wert verloren und stellt für die Öffentlichkeit keinen Zusammenhang mit ökologischer Verantwortung mehr her.“
Für das US-amerikanische Markenrecht sind die dortigen Aktivisten nicht verantwortlich. Und auch in den USA gibt es sinnvolle Aktivitäten. Aber der angesprochene Missbrauch hat wohl eine längere Geschichte. Ein weiteres Phänomen vor allem dort ist, neben dem auch international allmächtigen Wirtschafts-Liberalismus, die merkwürdige Polarisierung zwischen den Welterklärungs-Ansprüchen eines szientistisch-positivistischen „Humanismus 2.0“ (der Fortschritt löst alles) und den Welterklärungs-Ansprüchen kreationistisch-(un)christlich-nationalromantischer Fundamentalisten. Inklusive jeweiliger Anhängerschaften, Parteien, Geld- und Machtinteressen. So gehen dann auch die ungelösten Problemkreise mit den Finanzierungsquellen der Forschung in weitere Runden.
Wissenschaft ist derweil ihrem Wesen nach weder eine Welterklärungs- noch eine Fakten-Fabrik, sondern beinhaltet zunächst ganz einfach die Kunst, in geeigneter Weise Fragen zu stellen.
Fazit:
Eigentlich könnte es eine gute Sache sein, der Science March. Wenn man nicht nur marschieren, sondern viel mehr noch debattieren würde, welche Forschung und welche technischen Entwicklungen Mensch und Erde wirklich brauchen, statt dies fast ausschließlich durch (Macht- und) Wirtschaftsinteressen bestimmen zu lassen.
C. C., 21./23.4.2017
– PDF-Version dieses Artikels zum Speichern, Drucken, Link-Teilen –
(1) Prof. Dr. Christian Kreiß, Hochschule Aalen, zur heiklen Frage Finanzierung der Forschung, 2015 in einem Fachgespräch zum Thema wissenschaftliche Verantwortung. Lesenswert!
(2) Bildquellen: u.a. Pressearchiv von marchforscience.de